Wirtschaftskrise in der Türkei: Kein Ausweg in Sicht
Der türkische Präsident Erdogan versucht, die Wirtschaftskrise zu bekämpfen. Den Verfall der Währung konnte er stoppen. Experten sehen die Turbo-Inflation als größere Gefahr.
Über zwei Jahre war die türkische Lira unaufhaltsam im Sinkflug. Die Arbeitslosigkeit – besonders unter Berufseinsteigern – ist dramatisch. Die Preise für Grundnahrungsmittel schwanken stark. Es ist immer das gleiche Bild seit Beginn der Währungs- und Wirtschaftskrise im Herbst 2018: Die wirtschaftliche Lage ist desolat, die Lösungsansätze der türkische Regierung, sowohl in der Wirtschafts- als auch in der Geldpolitik, laufen ins Leere.
Ende letzten Jahres zog der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan medienwirksam die Notbremse. Er kündigte eine “neue Ära der Wirtschaft” an. Es folgten spektakuläre Entlassungen: Erst Notenbankchef Murat Uysal, dann der türkische Finanzminister, der zugleich Erdogans Schwiegersohn ist. Offiziell ist Berat Albayrak aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten.
Die Lira gewinnt deutlich an Wert
Ende November folgten radikale Schritte in der Geldpolitik. Der Leitzins wurde überraschend deutlich von 10,25 auf 15 Prozent erhöht – im Dezember ein weiteres mal auf dann 17 Prozent. Eine 180-Grad-Wende: Denn Erdogan gilt eigentlich als Befürworter eines niedrigen Leitzinses. Die Entscheidung machte sich positiv auf dem Devisenmarkt bemerkbar: Der Wert der Lira, der mit zwischenzeitlich mit 8,50 Dollar auf einem rekordverdächtig niedrigen Wert lag, stieg an: Momentan ist ein Dollar 7,02 Lira wert – eine Plus von 18 Prozent in den letzten drei Monaten.
“Anfang November haben die Ernennung des neuen Notenbankchefs Naci Agbal und die sukzessiven Zinserhöhungen nach dem Rücktritt des ehemaligen Finanzministers Berat Albayrak den Wertanstieg begünstigt”, schlussfolgert Sinan Alcin, Wirtschaftsprofessor an der Istanbuler Kultur-Universität. Zudem hätten die Schritte der Zentralbank und klare Botschaften im Kampf gegen die Inflation das Vertrauen in die türkische Lira wiederhergestellt. “Die türkische Lira hatte zuvor von Ereignissen wie der Verschuldung des privaten Sektors, die in den letzten vier Jahren 300 Milliarden US-Dollar überschritten hat, die Krise um den US-amerikanischen Pastor Andrew Brunson und dem Systemwechsel zu einem Präsidialsystem im Jahr 2018 eine historische Abwertung erfahren”, erklärt Alcin.
Inflation setzt Bevölkerung zu
Dennoch macht sich der Aufschwung der türkischen Lira nicht in den Geldbeuteln der türkischen Bevölkerung bemerkbar. Der Anstieg der Inflationsrate ließ sich bisher nicht aufhalten und liegt mittlerweile bei 14,97 Prozent – der höchste Wert seit August 2019. Zum Vergleich: In der Eurozone lag die Rate im Januar bei 1,0 Prozent. Der hohe Preisauftrieb macht sich besonders bei Lebensmitteln bemerkbar, die in den letzten Monaten exorbitant in die Höhe geschossen sind.
Nach den Zahlen des Verbraucherpreisindex, der vom Türkischen Statistikamt (TÜIK) jährlich herausgegeben wird, gab es im letzten Jahr einen dramatischen Anstieg des Preisniveaus bei Lebensmitteln. Für Gemüse, Obst, Eier, Öl oder Milch sind auf den türkischen Märkten gesalzene Preise zu bezahlen.
Wer ist an Lebensmittel-Misere schuld?
Präsident Erdogan macht die Einzelhändler für die Misere verantwortlich. Vor zwei Wochen kündigte er “harte Strafen” an. Es sei ihm nicht entgangen, dass es bei Gemüse, Obst und sogar Hülsenfrüchten gravierende Preisunterschiede gebe. “Wir können die Unterdrückung der Bürger nicht tolerieren. (…) Machen Sie ihre Arbeit korrekt und drangsalieren sie nicht die Bürger”, schimpfte der Präsident. Neben den Händlern macht Erdogan die weltweite Dürre und die Corona-Pandemie dafür verantwortlich, dass die Märkte überall auf der Welt in Aufruhr seien.
Doch Kritiker haben eine andere Sicht auf die Dinge: Eigentlich gibt es in der Türkei die perfekten klimatischen Bedingungen für eine produktive Landwirtschaft. Dennoch müssen Obst und Gemüse importiert werden. Daher lautet häufig die Kritik, dass die Inflation im Lebensmittelmarkt größtenteils von der Regierung selbst verschuldet sei. Die islamisch-konservative AKP-Regierung habe über Jahre zu einseitig in den Bau- und Dienstleistungssektor investiert und zu wenig im Agrarsektor.
Der Wirtschaftswissenschaftler Baris Soydan etwa führt den Turbo-Preisanstieg auf den Neoliberalismus in der Agrarwirtschaft zurück. “Wenn der Dollarpreis hoch ist, heißt das, dass die Preise für Lebensmittel steigen, weil auch die Kosten steigen – für Dieselöl und Dünger, der hauptsächlich aus dem Ausland stammt. In der Türkei sind Erträge auf den Feldern rückläufig, die Dörfer verschwinden, weil die Menschen glauben, dass die Landwirtschaft nicht genügend Erträge bringt.” Ein weiterer Aspekt sei, so Soydan weiter, dass in den letzten zehn Jahren “landwirtschaftliche Flächen dem Bau geopfert wurden, um große Wohnprojekte zu bauen.”
Erdogan macht mit Mondmission von sich reden
Doch anstatt den landwirtschaftlichen Produzenten und der Bevölkerung in Krisenzeiten finanziell unter die Arme zu greifen, scheint zurzeit eher ein gigantomanisches Projekt im Fokus des türkischen Präsidenten zu stehen. Diese Woche verkündete Erdogan die baldige Geburtsstunde der türkischen Raumfahrt. Mit Hilfe internationaler Partner soll “Ende 2023 der Mond mit unserer eigenen nationalen und einzigartigen Hybridrakete erreichet werden”, kündigte er an – pünktlich am Jahrestag der Gründung der Türkischen Republik. Erdogan rief zudem die Menschen auf, einen türkischen Begriff für Astranout oder Kozmonaout zu finden.
Das Projekt spaltet die Republik: Während die einen in den soziale Netzwerken ihre Begeisterung über das Projekt zum Ausdruck bringen, fragen sich andere, wie ein kostspielige Mondmission in Zeiten der Wirtschaftskrise bezahlbar ist./dw/Daniel Derya Bellut, Aram Ekin Duran