Dschinn: Grüße aus der Parallelwelt
Dschinn werden oft als Flaschengeister dargestellt, die Wünsche erfüllen. Damit haben die im Koran erwähnten „Geister“ aber wenig zu tun. Sie werden eher als Wesen einer Parallelwelt beschrieben, die auf das menschliche Leben einwirken können.
Der bekannteste Dschinn ist wohl der Flaschengeist aus „Aladin und die Wunderlampe“ aus der Märchensammlung „Tausendundeine Nacht“, und seit den Verfilmungen des Stoffs weiß man auch: Es ist ein Er und er ist blau. In den 1960er Jahren zauberte die „bezaubernde Jeannie“ mit einem Augenzwinkern die verrücktesten Abenteuer herbei.
Dschinn-Figuren in Geschichten, Filmen und Serien sind oft liebenswert, praktisch, witzig und abenteuerlich oder aber furchteinflößend, wie eine ganze Reihe von Psychothrillern und Horrorfilmen zeigt. Mit dem, was im Islam unter Dschinn verstanden wird, haben sie alle wenig zu tun.
Gestaltlos in einer Parallelwelt
Dschinn werden als „Geistwesen aus einer parallelen Welt“ gesehen, sagte Michael Reidegeld, Islamwissenschaftler und Islamlehrer an der kirchlich-pädagogischen Hochschule Wien/Krems im Gespräch mit religion.ORF.at. Im Islam gelten sie als eigene Schöpfungsart und als Wesen, die Gott nach den Engeln und vor den Menschen schuf. Es werden ihnen bestimmte Eigenschaften und Charakterzüge zugeschrieben sowie ein freier Wille. Es wird davon ausgegangen, dass es gute und böse Dschinn gibt.
Der Koran widmet den Dschinn (männlich: Dschinni, weiblich: Dschinniya, Mehrzahl: Dschinn) eine ganze seiner 114 Suren (Sure 72). Darin „sprechen“ die Dschinn selbst und es geht daraus hervor, dass es Gläubige und Ungläubige unter ihnen gibt. Als Geistwesen gelten sie als gestaltlos, im Volksglauben können sie aber verschiedene Gestalten annehmen.
Ghul und Si’alah
Verbreitet ist der Glaube an böse Geister (Dämonen), die den Menschen schaden wollen. Dazu gehören auch Phänomene wie der böse Blick. Die Vorstellungen reichen bis zur „Besessenheit“ und zu Schwarzmagiern, die mit Geistern arbeiten würden, so Reidegeld. Bekannt sind Vorstellungen von verschiedenen Dschinn-Arten, z. B. Ghul und Si’alah, erklärte Bego Hasanovic, Arabisch-Lektor am Institut für Islamisch-Theologische Studien der Universität Wien.
Ghul können demnach in unterschiedlichen Gestalten auftreten und nachts die Menschen locken. Si’alah seien weibliche Dschinnya, die Menschen mit Tänzen hinterhältig verführen. Auch Iblis (Satan) war der Legende nach ein Dschinni.
„Paranormale Erlebnisse“
Woran erkennt man nun, dass man es mit Dschinn zu tun hat? Für gewöhnlich hätten die Menschen keine Wahrnehmung von ihnen, zumindest keine bewusste, sagte Reidegeld. Sie würden für „paranormale Erlebnisse“ verantwortlich gemacht.
Wenn also Gegenstände aus unerklärlichen Gründen hinunterfallen, plötzlich ein Schlag verspürt wird, Stimmen hörbar werden, die augenscheinlich keinen Personen zugeordnet werden können, oder wenn Personen auffällige Gemüts- oder Verhaltensänderungen zeigen, wird das von manchen als Zeichen für das Wirken von Dschinn gedeutet. Es wird ihnen auch zugeschrieben, in Liebesdingen mitmischen zu können.
Dschinn bewohnen bestimmte „Zwischenbereiche“ wie die Dämmerung, Halbschatten und Gebiete zwischen Land und Wasser, so Reidegeld. Auch Wüsten und Täler sowie Ruinen zählen dazu, weshalb es in manchen Gegenden z. B. üblich sei, bevor man ein Tal oder ein verlassenes Haus betritt, bestimmte ritualisierte Formeln zu sprechen, um unbeschadet zu bleiben. Viele Musliminnen und Muslime sind überzeugt, dass das Rezitieren bestimmter Koran-Suren gegen Dschinn wirkt.
Regulativ in „heiklen Fragen“
Den Forschungen des an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften tätigen Sozialanthropologen Gebhard Fartacek zufolge würden Dschinn vor allem bei „heiklen Themen“ wie der Sexualität, dem Unterlassen von Ritualen oder einem Bruch mit den Traditionen der Vorfahren eine Rolle spielen. Er hat wissenschaftliche Dokumentationen zu Dschinn in Syrien erstellt. Dort sei der Glaube an Dschinn auch unter Christinnen und Christen verbreitet.
Aus phänomenologischer Sicht sind sie laut Reidegeld eine „Realität“. Sie hätten „andere Möglichkeiten in Raum und Zeit“. Es komme darauf an, wie man bestimmte Phänomene einordne. Der Islamlehrer wies auf verschiedene Aufmerksamkeitsebenen hin, die aktiviert werden und verschiedene Wahrnehmungsinhalte hervorbringen können.
„Soziale Realität“
Auch Fartacek sieht sie als „soziale Realität“. Sei ein Konzept wie das der Dschinn in den kollektiven Wirklichkeitskonstruktionen verankert und Teil des Weltbilds, „entsteht ein Common Sense“. „Insofern sind Dschinn real.“ Erzähle jemand von einer „Begegnung“ mit Dschinn, löse das einen Diskussionsprozess und die Suche nach Ursachen aus. Häufig komme heraus, dass von der betroffenen Person Verfehlungen begangen worden seien.
Diese Vorgänge dienten dazu, Strategien zu entwickeln, mit Verfehlungen, aber auch mit gesellschaftlichen Veränderungen umzugehen. Als Beispiele nannte Fartacek die Missachtung gesellschaftlicher Tabus wie das Trinken von Alkohol, die Nichtdurchführung wichtiger Rituale (z. B. Sprechen bestimmter Redewendungen, wenn man einen Dschinn-Ort betritt), die Verletzung der Traditionen der Ahnen, die Ausbeutung kultureller Schätze (Grabräubertum) und das Thema Sexualität.
Die Dschinn-Vorstellungen passen sich Fartacek zufolge den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (Werte, Lebensstil) an und verändern sich.
Keine Erklärung im Koran
Der Glaube an Dschinn war in vorislamischer Zeit im Orient weit verbreitet. Sie galten als Inspirationsquellen für Dichter und Vermittler des geheimen Wissens von Wahrsagerinnen und Wahrsagern, sagte Hasanovic. Auch die Anbetung von Dschinn habe es in vorislamischer Zeit gegeben. Die theologischen und philosophischen Deutungen, was Dschinn eigentlich sind, haben sich im Lauf der Zeit jedoch verändert.
Außer, dass sie aus rauchlosen Feuerflammen erschaffen worden seien, liefere der Koran keine weiteren Erklärungen, so Hasanovic. Er unterscheidet zwischen dem Volksglauben und der theologischen Beschäftigung mit Dschinn. Was im Volksglauben laut Reidegeld kaum angezweifelt wird, ist theologisch komplexer.
Von Geist bis Mikrokosmos
Die meisten klassischen Koran-Exegeten hätten zwar die Existenz der Dschinn bestätigt, aber eine intensive Auseinandersetzung über ihr Wesen sei von vielen vermieden worden, sagte Hasanovic. Auch ob sie tatsächlich Einfluss nehmen können, werde von der klassischen islamischen Theologie eher kritisch gesehen. Von muslimischen Gläubigen werde die Existenz der Geistwesen im Allgemeinen nicht angezweifelt, so Reidegeld.
Reformdenker aus dem 19. Jahrhundert wandten sich laut Hasanovic gegen die Vorstellung von Dschinn als geistigen Wesen. In der Folge wurden sie als Mikroorganismen aufgefasst, als spirituelle (Natur-)Kräfte, empfindungsfähige Organismen, vernünftige Wesen oder bisher ungesehene, unbekannte Wesen bzw. Menschen.
Mit Schirchperchten gegen „böse Geister“
Im alpenländischen Raum hält sich bis heute der Brauch, durch besonders hässliche, furchteinflößende Figuren (Perchten) die „bösen Geister“ des Winters zu vertreiben. Und auch das Feuerwerk zum Jahreswechsel diente früher diesem Zweck.
Die Vorstellung, dass die Welt aus mehr besteht als dem Sichtbaren, begleitet die Menschheit immer schon. Praktisch überall gab und gibt es unterschiedlich ausgeprägte Vorstellungen von anderen Wesen und Welten. Auch heute wimmelt es in den Kinos nur so von Aliens, Monstern, Avataren, Engeln, Superhelden und die Physik spricht von unsichtbaren Dimensionen, Zeittunneln und Paralleluniversen. Und diese Geister gehen wohl in keine Flasche zurück.
Nina Goldmann, religion.ORF.at