Identifikation mit Freaks, Mördern und Monstern: Die Logik der Leinwand
Warum erkennen wir uns in einem Charakter wie dem Joker wieder? Achtung, Spoiler!
Köksal Baltacı
Wer kurz an einen seiner Lieblingsfilme denkt, wird sich eingestehen müssen, dass es vor allem einer der Charaktere ist, weswegen er den Film so mag. Jemand, in dem er sich wiedererkennt und mit dem er sympathisiert, der ihn inspiriert und fordert – die
Grundvoraussetzung für eine Verbindung zum Plot. Kino bedeutet nun einmal Identifikation – auch, wenn die meisten Figuren massiv überzeichnet sind. Und Dinge tun, die man im wirklichen Leben nie tun würde. Ein gutes Beispiel dafür ist „Tatsächlich . . . Liebe”: nur Freaks und unrealistische Stränge, trotzdem lieben wir sie.
Am deutlichsten ist dieses Phänomen in Dramen und Thrillern zu beobachten. Nehmen wir die aktuelle Comic-Verfilmung „Joker“, die trotz ihrer schwer zu ertragenden Brutalität und düsteren Aufmachung sensationell erfolgreich ist – ganz offensichtlich, weil sich die Menschen mit dem Außenseiter Joker identifizieren.
Einem psychisch schwer kranken Mann, der beinahe täglich öffentlich gedemütigt wird, harte Medikamente nimmt, keinerlei Perspektive hat, als Kind von seiner Mutter an einen Heizkörper gefesselt wurde, damit ihn ihr Lebensgefährte missbrauchen konnte, und schließlich zum Mörder wird.
Wer würde sich in so einer Person wiederkennen? Nun, Millionen Kinobesucher weltweit, die nicht jeden Tag gedemütigt werden, keine Psychosen haben und auch nicht als Kind adoptiert wurden, damit Drogenabhängige sie missbrauchen können.
Warum? Weil sie Wesen mit Fantasie sind. Und in eine Welt eintauchen können, die zwar gewisse Parallelen zu ihrer aufweist, in der es aber weniger Einschränkungen und Grenzen gibt. Das ist wohl das Geheimnis des so edlen Mediums Film – ein Gleichgewicht aus Realität und Fiktion. Mit der richtigen Abmischung lässt sich das Publikum auf alles ein. Selbst auf einen Clown, der mordend durch die Straßen einer nicht existierenden Stadt zieht, und dabei beklagt, dass es zu wenig Mitgefühl auf der Welt gibt./Die Presse