Erdoğans Fundament der Macht hat Risse bekommen

Noch kontrollieren der türkische Präsident und seine Partei das Land. Doch das Ergebnis der Kommunalwahlen zeigt, wie groß die Unzufriedenheit ist.

Erdoğans Fundament der Macht hat Risse bekommen

Duygu Özkan

„Eine Regierung ist wie eine Maulbeere, irgendwann fällt sie runter.“ In der wilden Wahlnacht von Sonntag auf Montag waren die türkischen User sozialer Medien nicht mehr zu stoppen.

Einer schreibt, in Anlehnung an die Unregelmäßigkeiten der vergangenen Jahre: „Ich habe die CHP gewählt, aber Anadolu (staatliche Nachrichtenagentur, Anm.) weiß es natürlich besser. Mal sehen, wen ich gewählt habe.“ Die bekannte Autorin und Journalistin Ece Temelkuran zeigte sich indessen literarisch hoffnungsvoll: „Ein schlafloses Land wacht auf und findet Demokratie vor.“

Die Kommunalwahl war ein Stresstest für Präsident Recep Tayyip Erdoğan, und noch scheint sich nicht zu lichten, ob er diesen Test bestanden hat oder nicht. Seine AKP ging in der Hauptstadt unter, das ist der erste schmerzhafte Tritt. Sie verlor die touristisch und wirtschaftlich wichtige Provinz Antalya an die sozialdemokratisch-kemalistische CHP, und selbst im anatolischen Herzland musste der Platzhirsch einige Gebiete abtreten. Die Sozialdemokraten, deren strategische Allianzen diesmal aufgegangen sind, konnten zusätzlich einige Provinzen von den Ultranationalisten erobern, beispielsweise die Provinzen Adana und Mersin.

Und der Kampf um Istanbul scheint noch nicht entschieden: Sowohl die AKP als auch die CHP reklamieren den Sieg für sich. Bei der Durchgabe der Wahlergebnisse kam es in der Nacht zu Unregelmäßigkeiten, einige Beobachter fühlten sich an die Kommunalwahl 2014 erinnert, als bei der Bekanntgabe der für die AKP ungünstigen Ergebnisse in Ankara plötzlich der Strom ausfiel. (Später hieß es damals, eine Katze habe den Generator gestört.)

Wenn die AKP also Ankara und Istanbul verliert, dann ist das eine sehr schlechte Nachricht für die lebensnotwendigen Seilschaften der Partei, die sich auf diese Städte konzentrieren. Hier wird das Rad gedreht, hier werden Aufträge und Jobs vergeben. Istanbul hat zudem eine unschätzbare symbolische Wirkung. Fast auf den Tag genau, am 27. März 1994, ging hier Recep Tayyip Erdoğan als siegreicher Bürgermeisterkandidat hervor – sein Aufstieg war nicht mehr zu stoppen.

Mit dem möglichen „Fall“ Istanbuls den Untergang der AKP heraufzubeschwören ist jedoch zu kurz gegriffen. Die Partei hat noch immer mehr als 44 Prozent der Stimmen erhalten, sie kontrolliert alle wichtigen politischen Schnittstellen im Land, von Medien bis hin zur Justiz. Die AKP bleibt stärkste Kraft.

Aber Risse sind zu sehen. Die 51 Prozent Wählerstimmen, von denen Erdoğan in der Wahlnacht gesprochen hatte, erhielt nicht nur die AKP allein, sie gingen an die Allianz der AKP mit der ultranationalistischen MHP. Erdoğan braucht einen Partner, seine Partei erreicht die Mehrheit nicht mehr allein. Um die Vormachtstellung im Land muss die AKP immer härter kämpfen; bei jeder Wahl gestaltet sie die Vorbedingungen noch unfairer. Dass trotz dieser Ausgangslage Parteien wie CHP und HDP überleben können, obwohl sie kaum Sendezeit bekommen oder ihre Vertreter im Gefängnis sitzen, ist und bleibt ein hoffnungsvolles Zeichen.

Die Wähler vom Sonntag nehmen dem Präsidenten nicht nur die schwere Finanzkrise übel, die das Land seit etwa einem Jahr plagt. Sie wollen auch eine Wahlpause haben. Seit Jahren finden quasi nonstop Wahlen und Referenden statt; so musste selbst Erdoğan bei diesem Wahlkampf versprechen, dass der nächste Urnengang nicht vor 2023 stattfinden werde.

Und als er das sagte, wirkte er selbst müde: Der jahrelange Dauerwahlkampf hat Spuren bei dem 65-Jährigen hinterlassen. In einer Demokratie müsse man auch Verluste hinnehmen, sagte er abgekämpft.

Aber den ersten Platz, den bisherigen Weg kampflos aufgeben? Nein. Aus der Partei hieß es am Montag, die AKP wolle das Ergebnis in Ankara anfechten.

Sollte die CHP in Istanbul gewinnen, ist dort Ähnliches zu erwarten. Alle Provinzen, die an die prokurdische HDP gingen, müssen sich auf eine erneute Zwangsverwaltung einstellen. Alle Proteste, die folgen werden, wird die Regierung niederbügeln. Die Ära Erdoğan hat mit dieser Wahl empfindliche Risse bekommen, aber sie ist nicht vorbei./Die Presse 

Yayınlama: 04.04.2019
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