Migration: „Tür zur Ausbeutung offen“
Die Fluchtforscherin Judith Kohlenberger plädiert für einen offeneren und wertschätzenderen Umgang rund um die Themen Flucht und Migration. Angesichts des Arbeitskräftemangels brauche es unterschiedliche Maßnahmen. Der Ruf nach „qualifizierter Zuwanderung“ reiche nicht aus.
In vielen Fällen würden Menschen, die ins Land kommen und hier arbeiten, nicht ihren Fähigkeiten entsprechend eingesetzt werden, meinte Judith Kohlenberger. Dabei sei es egal, ob es sich um Asylberechtigte oder regulär eingewanderte Menschen handelt. „Diese Form der Dequalifikation, also überqualifiziert und in prekärer Tätigkeit wie Schichtarbeit zu sein, betrifft überproportional Migrantinnen und Migranten in unserem Land“, sagte sie.
Vor allem in Bundesländern wie Tirol, in denen durch Tourismus und Gastgewerbe der Bedarf auch an niedrig qualifiziertem Personal sehr hoch sei, sei das häufig der Fall. Das System erschwere es den Menschen, ihre Qualifikationen im Arbeitsmarkt einzubringen. Situationen wie diese beschreibt die Migrationsforscherin der Wirtschaftsuniversität Wien in ihrem Buch „Das Fluchtparadox“, das als Wissenschaftsbuch des Jahres 2023 ausgezeichnet wurde.
Die Phrase der „qualifizierten Zuwanderung“
Kohlenberger fordert einen leichteren Zugang zum Arbeitsmarkt, teilweise auch für Asylwerberinnen und -werber. Mit Blick auf den demographischen Wandel sei es durchaus eine Überlegung wert, ob man Asylwerbenden nicht in mehr Branchen einen Zugang zum Arbeitsmarkt gewährt, etwa nach einer gewissen Frist und unter bestimmten Voraussetzungen.
In den vergangenen Monaten sprachen sich Vertreterinnen und Vertreter der Politik und der Wirtschaft wiederholt für mehr „qualifizierte Zuwanderung“ aus, nicht zuletzt auch in Tirol – mehr dazu in Forderung nach mehr Saisonarbeitern in Tirol. Auf die Frage, wie dieses Schlagwort der „qualifizierten Zuwanderung“ einzuschätzen sei, sagte Kohlenberger: „Das ist leider schon wieder zu einer Art Schablone geworden, eine Art Phrase, die man sehr häufig hört.“
Das sei sehr widersprüchlich und problematisch, weil qualifizierte Migrantinnen und Migranten ihre Fähigkeiten eben kaum im heimischen Arbeitsmarkt einsetzen könnten. Das Klischee einer „studierten Biochemikerin, die als Reinigungskraft arbeitet“, sei zwar ein wenig überzeichnet. Es komme in der Realität aber sehr häufig vor. Dabei gehe sehr viel Potential verloren.
Ganzheitlicher Zugang sei notwendig
Der größte Arbeitskräftemangel herrsche bekanntlich nicht unter Akademikerinnen und Akademikern, sondern im Bereich der niedrigen und mittleren Qualifikationen. Es handle sich dabei vor allem um Jobs, die auf Handfertigkeiten und manuelle Tätigkeiten ausgerichtet sind. „Ich glaube es wäre verfehlt, bei Anwerbestrategien im Ausland nur auf den höchstqualifizierten Sektor zu schauen“, so Kohlenberger. Stattdessen brauche es einen ganzheitlichen Zugang.
Im öffentlichen Migrationsdiskurs zeige sich auf Basis der Forschung auch, dass sich die negative Stimmung gegenüber einer bestimmten Gruppe von neu ankommenden Menschen, zum Beispiel Flüchtlingen, auch auf andere Gruppen auswirke. „Das nehmen dann auch andere Migrantengruppen wahr, die man für den Arbeitsmarkt anwerben möchte, weil dieses Klima alle negativ trifft“, meinte sie.
Arbeitskräften fehle eine Stimme
Einerseits gebe es sehr positive Beispiele, wie Tourismus- und Beherbergungsbetriebe auf ausländische Arbeitskräfte setzen. Andererseits zeige sich immer wieder, dass Menschen in Massenunterkünften nächtigen müssen und bestimmte arbeitsrechtliche Bedingungen nicht eingehalten werden. Nicht nur in Österreich, sondern auch im Ausland habe sich deshalb während der Pandemie gerade in beengten Wohnverhältnissen das Corona-Virus leichter verbreitet.
„Leider geht die Tür zur Arbeitsausbeutung sehr schnell auf“, sagte Kohlenberger. Deshalb sei es besonders wichtig, die Aufmerksamkeit darauf zu richten. Insbesondere bei Menschen aus marginalisierten Gruppen, zu denen vielerorts Migrantinnen und Migranten und Geflüchtete zählten, werden ihr zufolge zuerst Sozial- und Arbeitsrechte beschnitten.
Oft fehle es diesen Menschen aber an einer Stimme, konkret etwa einer Wählerstimme. Ein großer Teil der migrantischen Bevölkerung sei mangels Staatsbürgerschaft schlichtweg nicht wahlberechtigt. Das sei ein gesellschaftliches Problem, meinte sie: „Erst wenn man sieht, wie dieses ganze System ineinander greift, nämlich ökonomische mit politischen und sozialen Fragen, kann man auch zu einer Transformation des Systems gelangen.“
„Migration als Chance sehen“
Hierzulande fehle oft der politische Wille dafür, Asylberechtigte schneller zur Arbeit zu bringen bzw. Asylwerbende leichter einzubinden. Konzepte und erprobte Beispiele aus anderen Ländern gebe es genug. In Österreich dominiere allgemein ein sehr negativ geführter Migrationsdiskurs. Zuwanderung werde häufig als „chronische Krise“ mit ausschließlich negativen Effekten dargestellt.
Gleichzeitig sei unser Wirtschaftssystem auf die Arbeitskraft von Migrantinnen und Migranten angewiesen. In das österreichische Selbstverständnis sei das nach wie vor nicht vorgedrungen. Letztlich stehe das auch sehr guten Lösungen in diesem Bereich im Wege. Ein Bekenntnis zu Österreich als Einwanderungsland sei in diesem Zusammenhang wesentlich. Auf diese Weise könne man auch eine „gesellschaftliche Diversitätskompetenz“ entwickeln, also eine kompetente Umgangsform miteinander, so die Forscherin. Notwendig dafür sei die Anerkennung der Vielfalt unserer Gesellschaft.|Benedikt Kapferer, tirol.ORF.at