“Das ‘Favoriten’-Ghetto in Wien”
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| Adem Hüyük
Der Begriff “Ghetto” wurde erstmals im 10. Jahrhundert für eine ummauerte und kontrollierte jüdische Siedlung in Venedig verwendet. Die venezianischen Behörden setzten restriktive Regeln zur Überwachung von Minderheiten durch, wobei die jüdische Bevölkerung besonders stark betroffen war. Bis nach der Französischen Revolution wurden Juden gezwungen, in bestimmten Stadtteilen zu leben.
Das “Gürtel”-Ghetto in Wien
Bis 1890 existierten in Wien Stadtmauern (der sogenannte Gürtel), die die Vororte von der Innenstadt trennten. Damals sprach 42 % der Wiener Bevölkerung eine andere Muttersprache als Deutsch, wobei die größte Gruppe mit über 100.000 Menschen Tschechisch sprach. Diese Mauern dienten als physische Trennung zwischen den aristokratischen Wienern und den zugewanderten Arbeitskräften.
Wien heute
Obwohl der Begriff “Ghetto” in Europa heute oft durch “parallele Lebenswelten” ersetzt wird, findet in Wien eine freiwillige Ghettoisierung statt. Besonders auffällig ist dies im 10. Bezirk, Favoriten.
Nach den Anschlägen vom 11. September und mit der steigenden muslimischen Bevölkerung in Europa hat sich die Diskussion über ethnische Enklaven intensiviert. Die jüngsten Fluchtbewegungen aus Syrien und Afghanistan haben dieser Entwicklung eine neue Dimension hinzugefügt. Vor allem junge Geflüchtete, die in Kriegsgebieten aufgewachsen sind, tun sich schwer, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Stattdessen beanspruchen sie Straßen und Plätze in den Ghetto-Gebieten für sich, was oft zu sozialen Spannungen führt.
In der Vergangenheit wurde in akademischen Studien und Medienartikeln oft über türkische Ghettos und die dort entstandenen nationalistischen Strömungen berichtet. Doch mit dem 60. Jahr der türkischen Einwanderung hat sich dieses Narrativ verändert. Die Vorurteile gegenüber türkischen Migranten weichen nun zunehmend einer Skepsis gegenüber syrischen und afghanischen Geflüchteten. Dennoch bleibt die freiwillige Selbstisolierung der türkischen Community bestehen.
Laut Studien der Universität Wien ist insbesondere im 10. Bezirk der Bedarf an Deutschkenntnissen minimal, da türkischsprachige Migranten dort alle ihre Bedürfnisse auf ihrer Muttersprache decken können.
Bereits vor vier Jahren haben wir in einer Studie zur “Ghetto-Problematik” 200 Migranten befragt, warum sie sich für ein Leben in Favoriten entschieden haben. Die Antworten zeigten, dass es sich um eine bewusste Entscheidung für ein Leben in der eigenen ethnischen Gruppe handelt.
In den letzten 20 Jahren erlebte Wien einen massiven Zuzug von Migranten. Die Präsenz von Verwandten oder anderen Mitgliedern derselben ethnischen oder religiösen Gruppe führt dazu, dass Neuankömmlinge sich dort niederlassen, wo sie sich sicher fühlen. Dieses Verhalten ist nicht nur bei türkischen Migranten, sondern auch bei syrischen und afghanischen Geflüchteten zu beobachten, was Favoriten zu einem “Migrantenbezirk” macht.
Ein typisches Merkmal eines Ghettos ist die Tendenz, sich innerhalb der eigenen Gruppe zu isolieren. Zudem zeigt sich in solchen Vierteln ein geringes Vertrauen in staatliche Institutionen, und der Anteil der Menschen, die im informellen Sektor arbeiten, ist dort besonders hoch. Auffällig ist auch, dass wirtschaftlich besser gestellte, selbständige Personen in diesen Bezirken stark unterrepräsentiert sind.
Fazit
Im 18. Jahrhundert dienten die Stadtmauern dazu, Wiener Aristokraten von den zugewanderten Arbeitskräften zu trennen. Die Ghettoisierung war eine Folge dieser erzwungenen Segregation und der daraus resultierenden Klassenkonflikte.
Heute lässt sich die Ghettoisierung in Favoriten als eine freiwillige Entscheidung erklären, die durch das Gefühl des Fremdseins und die damit verbundenen psychologischen Mechanismen verstärkt wird. Der Begriff “Ghetto” mit seiner ethnischen Konnotation stigmatisiert jedoch nicht nur diese Viertel, sondern verstärkt auch bestehende Vorurteile. Dies trägt letztlich zur weiteren Ghettoisierung bei, anstatt sie zu verhindern. |© DerVirgül