Die gleichen Lügen seit 100 Jahren: Wie die ÖVP kürzere Arbeitszeiten verhindern will – seit 1919
Die ÖVP wehrt sich gegen die Verkürzung von Arbeitszeit – seit über 100 Jahren. Geht es nach den christlichsozialen und den Industriellen-Vertretern, wäre es nie zu kürzeren Arbeitstagen gekommen. Hätten sich Gewerkschaften und Arbeitnehmer nicht gegen sie durchgesetzt, würden die Menschen in Österreich noch immer 12, 14 oder 16 Stunden am Tag arbeiten – und das an sechs Tagen die Woche.
Seit über 100 Jahren fordern die arbeitenden Menschen und ihre Vertreter und Vertreterinnen kürzere Arbeitszeiten – immer wieder mit Erfolg. So kam man seit 1885 zu einem 11-Stunden-Tag und einer 50-Stunden-Woche mit sechs Arbeitstagen. Im Laufe der Jahrzehnte wurden daraus 8 Stunden an fünf Tagen die Woche als normale Arbeitszeit. Auch wenn die Arbeitswelt heute eine völlig andere ist als 1885 – die Gegenargumente sind auch im Jahr 2020 die gleichen wie damals.
Seit 45 Jahren ist die Arbeitszeit in Österreich nicht mehr gesenkt worden, trotz stark gestiegener wirtschafticher Leistung. Heute arbeiten die Österreicher im Europa-Schnitt am meisten, nur in Malta und Zypern wird noch mehr gearbeitet. 2018 erließ die schwarz-blaue Bundesregierung unter Sebastian Kurz sogar noch eine Arbeitszeitverlängerung: Erstmals ist wieder die 60-Stunden-Woche möglich, ohne kollektivvetragliche Vereinbarung. Zudem werden hierzulande jährlich etwa 260 Millionen Überstunden geleistet, wovon gut 40 Millionen nie ausgezahlt werden. Es wäre an der Zeit über die Arbeitszeit in Österreich zu reden, da sind sich viele Experten, Politikerinnen, Arbeitnehmer und deren Vertreterinnen einig. Doch die ÖVP ist – wie schon vor hundert Jahren – dagegen.
Wir haben uns die wichtigsten Argumente in den letzten 100 Jahren angesehen und die konservativen Warnungen mit der Realität verglichen.
ES IST NIE DER RICHTIGE ZEITPUNKT
Das häufigste Argument der ÖVP gegen eine 4-Tage Woche ist der Zeitpunkt. Gerade jetzt, in Zeiten der Corona-Krise, könne man wirklich nicht über eine Verkürzung der Arbeitszeit nachdenken, sagen sie. Doch ein Blick in Parlamentsreden und Wortmeldungen von ÖVP-Politikern aus den letzten 100 Jahren zeigt: Hätten Österreichs Arbeitnehmer auf den Zeitpunkt gewartet, der für die ÖVP und Unternehmervertreter der richtige für kürzere Arbeitszeiten gewesen wäre – hätten sie heute wohl noch den 12-Stunden-Tag und die 6-Tage-Woche.
Die ÖVP und Industriellen haben in einem Punkt Recht: Es gibt keinen naturgegeben Zeitpunkt für eine gesetzliche Reduktion der Arbeitszeit. Arbeitszeitverkürzung kündigen sich nicht magisch an, fallen nicht vom Himmel. Fast alle Reduktion mussten der ÖVP und den Wirtschaftsvertretern schwer abgerungen werden – mit Demonstrationen, Streiks, Protesten und Volksabtimmungen.
KEIN UNTERNEHMEN BLEIBT IN ÖSTERREICH
Auch die Drohung, dass Unternehmen vor kürzeren Arbeitszeiten und „teureren Arbeitnehmern“ ins Ausland fliehen würden, gibt es schon länger als die Globalisierung. Die Abwanderungs-Angst ist seit über hundert Jahren ein beliebtes Argument gegen fast jede Verbesserung für ArbeitnehmerInnen. Das ist bei der Arbeitszeitverkürzung nicht anders.
Dieser Meinung waren nicht nur die Vertreter der Wirtschaft, sondern sogar der Deutsche Kaiser. 1890 war sich Wilhelm II. sicher, dass bessere Arbeitsbedingungen die deutsche Industrie ruinieren und nicht mehr konkurrenzfähig mit dem Ausland machen würden: „In wirtschaftlicher Beziehung ist zu erwägen, daß durch eine zu weitgehende Arbeiter-Schutzgesetzgebung eine unverhältnismäßige Belastung der deutschen Industrie gegenüber der ausländischen herbeigeführt und die erstere in dem Wettbewerb im Weltverkehr beeinträchtigt wird. (…) Wird auf dieser Bahn weiter fortgeschritten, und kann Deutschland nicht mehr die Konkurrenz des Auslandes vertragen, so tritt mit der Schädigung der Industrie auch eine Schädigung im Verdienst der Arbeiter ein.“
Dass Unternehmen Österreich nicht den Rücken kehren, ist für viele Experten und Expertinnen klar: Die hohe Qualifikation der Österreicher, die gute Infrastruktur und hohe Lebensqualität ziehen Firmen seit Jahrzehnten an und bleiben ein wesentlicher Standortfaktor:
„In Österreich liegt die Arbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte im europäischen Spitzenfeld. Im europäischen Ausland wird fast überall kürzer gearbeitet. Die ewige Drohung einer Standortverlagerung gehört übrigens zu den übelsten Methoden, um die eigenen Interessen auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung durchzusetzen“, sagt AK-Wirtschaftsexperte Matthias Schnetzer zu der Diskussion.
Der Export-Vergleich zeigt auch, wie konkurrenzfähig Österreich im internationalen Vergleich geblieben ist.
WOHER DIE FACHKRÄFTE FÜR DIE OFFENEN STELLEN NEHMEN?
Obwohl Konservative gerne behaupten, eine Arbeitszeitreduktion würde „Arbeitsplätze vernichten“, bringen sie gerne auch das gegenteilige Argument: Dass es nicht genügend qualifizierte Personen gibt, um die neu geschaffenen Stellen zu besetzen.
Es stimmt: Es gibt in gewissen Sparten in Österreich zu wenige Fachkräfte – etwa in der Pflege. Daran ändern allerdings lange Arbeitszeiten nichts. Im Gegenteil: Firmen, die Probleme haben, gut ausgebildete Fachkräfte anzuwerben, setzen seit Jahren auf besser Arbeitsbedinungen, um Fachkräfte anzuwerben und zu halten – auch auf kürzere Arbeitszeiten. Etwa die hochtechnologisierte Chemie- und Stahlindustrie, die zum Teil auf eine 32-Stunden-Woche setzt. Auch der Osttiroler Seifenhersteller „Brüder Unterweger“ sagt:
„Mittlerweile stellt sich heraus, dass nicht nur das Geld allein der ausschlaggebende Punkt ist, um sich irgendwo zu bewerben, sondern durchaus auch die verfügbare Freizeit“, ist sich Chef Michael Unterweger sicher: „Durch dieses Angebot finden wir eine ausreichende Zahl an guten Mitarbeitern. Besonders bei höher qualifizierten Mitarbeitern ist das durchaus ein wesentlicher Punkt.“
Auch in der Arbeiterkammer weiß man um solche Bemühungen: „Branchen wie Tourismus oder Pflege könnten für viele an Attraktivität gewinnen, wenn die Arbeitszeit verkürzt werden würde. Manche Unternehmen werben beispielsweise schon jetzt mit einer 6. Urlaubswoche nach einem Jahr Betriebszugehörigkeit, um qualifizierte Fachkräfte in das Unternehmen zu werben“, erklärt Ökonom Matthias Schnetzer. Auch wenn zur Lösung des Fachkräftemangels andere Maßnahmen deutlich wichtiger sind, etwa Investitionen in berufliche Aus- und Weiterbildung.
WER SOLL DAS BEZAHLEN?
Für Unternehmen würde es eine unleistbare Mehrbelastung darstellen, wenn für die gleichen Löhne weniger gearbeitet werden würde. Eine Kostenexplosion und ein Rückgang der Produktion wären die Folge – der Untergang aller Unternehmen, sind sich ÖVP und Industrielle sicher.
Auch hier zeigt die Geschichte, dass die Befürchtungen umsonst waren. Die österreichische Textilindustrie, die sich vehement gegen die Einführung des 11-Stunden-Tages eingesetzt hat, verarbeitete 1913 24 Mal mehr Baumwolle als noch 1841. Von einem Produktionseinbruch aufgrund der Arbeitszeitverkürzung 1885 kann also keine Rede sein.
Noch auffälliger hat sich die ökonomische Lage nach der etappenweisen Einführung der 40-Stundenwoche 1969 entwickelt. Das Wirtschaftswachstum der 1970er Jahre mit jährlichen Wachstumsraten von fünf bis sieben Prozent konnte Österreich bis heute nie wieder erreichen. Das ist auch im Produktionsvolumen der österreichischen Industrie zu sehen, das sich von 1950 bis 1998 um das 8,1-fache, von 1970 bis 1998 aber nur um das Doppelte erhöhte.
Darüber hinaus wurde ab den 1960er Jahren nicht nur mehr produziert, sondern die Lohnstückkosten haben sich in der österreichischen Industrie außerordentlich günstig entwickelt. Im Vergleich zu den anderen Ländern , die damals schon in der EU waren, verzeichnete Österreich zwischen 1964 und 1997 jährlich einen Lohnkostenvorsprung von 0,8%.
Das angekündigten Unternehmersterben oder ein Produktionseinbruch lassen sich also historisch nicht belegen – im Gegenteil.
In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die Eigentümer allerdings einen immer größeren Anteil aus den steigenden Erträgen der Firmen genommen. Die Arbeitnehmer haben immer weniger von dem gesehen, was sie erwirtschaftet haben. Das zeigt sich in der Lohnquote, die langfristig gesunken ist und der Gewinnquote, die gestiegen ist. Oft haben wir in dieser Zeit gehört, dass sich Unternehmen arbeitnehmerfreundliche Maßnahmen nicht leisten können. Es geht aber eher ums Wollen.
Dabei weiß man, dass kürzere Arbeitszeiten die Konzentration und Produktivität der Mitarbeiter fördern. Sie reduziert Arbeitsunfälle und auch Krankenstände, weil Mitarbeiter weniger oft psychisch und körperliche überlastet sind. Das betont auch AK-Wirtschaftsexperte Schnetzer, gibt aber zu bedenken: „Eigentlich ist die zentrale Frage weniger, was der Wirtschaft schadet, sondern was gut für die Menschen ist. Dabei spielen wirtschaftliche Interessen natürlich eine Rolle, aber eben nicht ausschließlich“.
NICHT WÄHREND EINER KRISE!
Auch die wirtschaftliche Gesamtlage muss immer wieder als Argument herhalten, wenn ÖVP und Industrielle Arbeitszeitverkürzungen verhindern wollen. Denn diese sei nur in Zeiten starker Konjunktur möglich.
Tatsächlich findet in in der jetzigen Wirtschaftskrise eine massive Arbeitszeitreduktion statt, um Arbeitsplätze zu retten: In Form von Kurzarbeit. „Natürlich ist eine Arbeitszeitverkürzung in Zeiten hohen Produktivitätswachstums einfacher, aber gerade die aktuell hohe Arbeitslosigkeit verlangt nach innovativen Modellen für eine bessere Verteilung der Erwerbsarbeit zwischen Arbeitsuchenden und Überlasteten“, erläutert Wirtschaftswissenschafter Schnetzer. Und er fügt hinzu: „Genauso wichtig wäre auch eine bessere Aufteilung der unbezahlten Haus- und Betreuungsarbeit zuhause, die in der aktuellen Krise deutlich zugenommen hat.“
SCHRECKGESPENST ARBEITSZEITVERKÜRZUNG
Die Geschichte zeigt, dass die Argumente vor allem dazu dienen, Angst zu schüren und jede Verbesserung für Arbeitnehmer als unmöglich darzustellen. Doch der befürchtete Untergang hat sich nicht bewahrheitet. Die österreichische Volkswirtschaft hat sich in jedem Fall gut entwickelt, trotz – oder gerade wegen der historischen Arbeitszeitverkürzungen: Wirtschaftswachstum, Exporte und Produktivität sind über die Jahre stetig gestiegen. Bei der Arbeitsproduktivität liegt Österreich im EU-Schnitt im Spitzenfeld und liegt mit 116,6 Prozent der Bruttowertschöpfung pro Beschäftigten vor Industrienationen wie Frankreich, Deutschland, Italien oder Großbritannien. Ausschlaggebend dafür sind vor allem die qualifizierten und motivierten Mitarbeiter.
Die Frage ist eher, wer von diesem Fortschritt profitiert hat. Spätestens seit den 1990er Jahren hinken die Löhne der steigenden Produktivität hinterher. Es wird zwar schneller, besser und mehr produziert, aber die Löhne steigen nicht entsprechend mit. Auf der anderen Seite sieht man, dass sich die Unternehmen in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr aus den Gewinnen sicherten. Es wäre höchste Zeit, mit einer Arbeitszeitverkürzung eine faire Aufteilung dieses gemeinsam erwirtschafteten Fortschritts zu erreichen. /kontrast.at/