Rund 600.000 Menschen werden in Wien nicht wählen können | Für sie sind wir immer noch „Arbeitskräfte“
| Adem Hüyük
Am 27. April werden die Einwohner Wiens, aber nur jene mit „österreichischer Staatsbürgerschaft“, zu den Urnen gehen, um einen neuen Gemeinderat, ein neues Landesparlament und die Bezirksvertretungen zu wählen.
Bei den Wiener Landtagswahlen am Sonntag, den 11. Oktober 2020, durften rund 30,1 % der Wahlberechtigten aufgrund ihrer fehlenden österreichischen Staatsbürgerschaft nicht wählen. Mehr als die Hälfte dieser Personen lebt jedoch seit über zehn Jahren in Wien.
Laut Statistiken aus dem Jahr 2020 konnten 571.900 Menschen in Wien nicht wählen. Landesweit hatten 1,2 Millionen Menschen kein Wahlrecht.
Diese Situation führt dazu, dass Migranten ohne Wahlrecht weniger Interesse an Gesellschaft und Politik in dem Land zeigen, in dem sie seit vielen Jahren leben. Es entsteht das Gefühl, dass sie keinen Einfluss auf den politischen und kulturellen Aufbau des gemeinsamen Lebens haben.
Unabhängig von einer Lockerung der strengen Regeln zur Erlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft könnte das Wahlrecht von der Staatsbürgerschaft entkoppelt werden.
Wie Beispiele aus vielen Ländern der Welt zeigen, sollten Menschen, die eine bestimmte Zeit im Land gelebt haben und dort steuerpflichtig sind, das Recht haben, an allgemeinen und lokalen Wahlen teilzunehmen.
Michael Ludwig: „Wahlrecht ist Staatsbürgerrecht“
Die Grünen brachten dieses Thema bei den Kommunalwahlen 2020 unter dem Motto „Wahlrecht für alle, die in Wien leben“ zur Sprache. Doch SPÖ Wien sowie Wiens Landeshauptmann und Bürgermeister Michael Ludwig hielten dagegen: „Das Wahlrecht ist ein Staatsbürgerrecht.“ Um die Kritik zu entschärfen, setzte sich Ludwig jedoch für eine Erleichterung des Staatsbürgerschaftserwerbs ein.
Die unter Ludwigs Verantwortung stehende Wiener Magistratsabteilung für Migration und Staatsbürgerschaft (MA 35) wurde im Jahr 2021 insgesamt 767-mal beim Volksanwaltschaftsrat (Volksanwaltschaft) gemeldet.
Ludwig versuchte sich gewissermaßen zu entlasten, indem er die Leitung der MA 35 dem Juniorpartner der Koalition übertrug.
Die Sozialdemokratische Partei (SPÖ), die im 19. Jahrhundert eine Bewegung war, die sich für Arbeiter ohne Wahlrecht einsetzte, ist heute durch die rechtsextreme FPÖ beeinflusst und zeigt wenig Widerstand, wenn es um einen schnelleren Zugang zur Staatsbürgerschaft oder die Gewährung des Wahlrechts für Nicht-Österreicher geht.
Aus SPÖ-Kreisen hört man häufig: „Das ist keine Angelegenheit, die durch Landesgesetze gelöst werden kann, sondern durch eine Änderung der Bundesgesetze.“ Aber wenn Wien als Bundesland einen Schritt vorangehen würde, könnte sich auf der politischen Bühne vielleicht etwas bewegen.
Migranten dürfen in New York wählen
In New York, das von der Demokratischen Partei regiert wird, dürfen rund 800.000 Menschen, die keine US-Bürger sind, bei Kommunalwahlen ihre Stimme abgeben.
Der Bürgermeisterposten von New York City, der vor genau 356 Jahren eingerichtet wurde, machte 2021 möglicherweise den fortschrittlichsten Schritt in seiner Geschichte: Ein Gesetz wurde verabschiedet, das rund 800.000 nicht-US-amerikanischen Einwohnern New Yorks das Wahlrecht bei Kommunalwahlen einräumte.
Aus ideologischer Sicht hätte die SPÖ, die einst den Austromarxismus vertreten haben soll, diese Initiative in Wien vorantreiben müssen – und das noch vor New York.
Mit der FPÖ wird es noch schwieriger
Die derzeitige Regierungsbildung der FPÖ-ÖVP-Koalition gibt wenig Hoffnung für Migranten.
Die rechtsextreme FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs) und die konservative ÖVP (Österreichische Volkspartei), die diese oft kopiert, signalisieren bereits, dass sie vor allem unter Verweis auf Asylsuchende strenge Gesetze für Ausländer verabschieden werden.
Die wachsenden Schwierigkeiten beim Aufenthaltsrecht und der Staatsbürgerschaft für Migranten in Österreich führen zu einer stärkeren Entfremdung zwischen Einheimischen und Migranten. Dies vergrößert die Kluft zwischen den beiden Gruppen.
Migranten, die sich nicht als Teil des politischen und gesellschaftlichen Systems sehen, ziehen sich oft in ein isoliertes „Ghetto“-Leben zurück. Während sie für ihre mangelnde Integration kritisiert werden, wird übersehen, dass strenge Gesetze ihre Teilhabe an politischem und kulturellem Leben behindern. Lockerungen dieser Gesetze und die Schaffung gleicher Bedingungen in allen Lebensbereichen könnten ein schöneres und lebenswerteres Österreich hervorbringen.
Seit jeher definieren die österreichische Bevölkerung und die Gesetzgeber Migranten mit den Worten: „Sie sollen arbeiten, Steuern zahlen und sich integrieren.“ Dabei wird ignoriert, unter welchen Bedingungen sie leben und was sie empfinden.
Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch sagte: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.“
Leider sieht Österreich uns auch nach 60 Jahren immer noch als „Arbeitskräfte“.
Und wer hilft dabei, dieses Bild aufrechtzuerhalten? Wir selbst…
Wie steht es um die Migranten mit Wahlrecht?
Wir fordern das Wahlrecht für Menschen, die keine österreichischen Staatsbürger sind, aber seit vielen Jahren in Österreich leben.
Aber wie sieht es bei den Migranten aus, die bereits die österreichische Staatsbürgerschaft haben und somit wahlberechtigt sind? Nutzen sie dieses demokratische Recht?
Besonders bei Menschen mit türkischen Wurzeln stellt sich die Frage: Gehen sie zur Wahl und üben ihr Bürgerrecht aus?
Natürlich nicht!
Wenn ich sage, dass wir selbst dazu beitragen, dass die Österreicher uns so sehen, dann möchte ich genau darauf hinweisen…| ©DerVirgül