Warum dieser Antrag, wenn Sie sich doch nicht in innere Angelegenheiten einmischen wollten?

| Der Virgül
Wenn Sie sich wirklich nicht in die inneren Angelegenheiten der Türkei einmischen wollten – warum haben Sie dann den Antrag mit dem Titel „Besorgnis über die Entwicklungen in der Republik Türkei“ selbst eingebracht und im Gemeinderat beschließen lassen?
Anmerkung der Redaktion:
Der in Wien angenommene und fast schon geheim gehaltene Antrag – ein Produkt politischer Balanceakte? Bei Der Virgül berichten wir nicht nur über das, was gesagt wird, sondern auch über das, was verschwiegen bleibt.
Die Festnahme und Amtsenthebung des Bürgermeisters von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, sorgte nicht nur in der Türkei, sondern auch im politischen Klima Europas für großes Aufsehen. Zahlreiche Bürgermeister europäischer Großstädte – Paris, Rom, Amsterdam, Barcelona und andere – bewerteten die Ereignisse als Angriff auf die Demokratie und bekundeten offen ihre Solidarität mit İmamoğlu. Doch aus Wien, insbesondere vom als sozialdemokratisch geltenden Bürgermeister Michael Ludwig, blieb eine solche Erklärung aus. Warum?
Ludwig begründete sein Schweigen mit den Worten:
„Ich sehe es nicht als meine Aufgabe, mich in innenpolitische Angelegenheiten anderer Länder einzumischen. In Frankreich, Israel und Serbien gibt es ebenfalls Korruptionsvorwürfe – damit beschäftige ich mich auch nicht.“
Diese Aussage mag auf den ersten Blick nach einem Prinzip der „Neutralität“ klingen, wird jedoch von manchen Kreisen als politisches Kalkül gelesen. In Wien lebt eine bedeutende türkischstämmige Bevölkerung, innerhalb derer es eine nicht unerhebliche Zahl von Erdoğan-Anhängern gibt.
Zudem hatte die Union Internationaler Demokraten [UID], der zivilgesellschaftliche Arm der AKP in Europa, die SPÖ bei den Wiener Wahlen 2020 offen unterstützt – und auch für die anstehenden Wahlen 2025 hat man keinerlei Hehl daraus gemacht, dass diese Unterstützung weitergehen soll. Diese Tatsache macht Ludwigs Schweigen noch bedeutsamer.
Ein Widerspruch im Antrag!
Auffällig ist jedoch ein weiterer Aspekt: Im Wiener Gemeinderat wurde der Antrag „Besorgnis über die Entwicklungen in der Republik Türkei“ von der SPÖ – jener Partei, deren Vorsitzender in Wien Michael Ludwig ist – eingebracht und auch beschlossen.
Dieser Widerspruch zeigt deutlich die Diskrepanz zwischen Ludwigs persönlichem Schweigen und der institutionellen Haltung seiner Partei. Bemerkenswert ist dabei auch, dass dieser Antrag nicht öffentlich kommuniziert, sondern nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit beschlossen wurde.
Das wirft die Frage nach doppelter Rhetorik in der Wiener Politik auf. Während die SPÖ mit dem Antrag eine Botschaft für Demokratie und Menschenrechte sendet, meidet ihr höchster Repräsentant jede öffentliche Stellungnahme. Wenn man Demokratieverletzungen nicht klar und konsequent benennt, wie glaubwürdig bleiben dann parteiinterne Beschlüsse?
Letztlich ist entscheidend: Wer sich zu demokratischen Werten bekennt, muss dies nicht nur verbal, sondern auch durch sichtbares Handeln tun. Schweigen ist in solchen Fällen selten Neutralität – oft ist es stille Zustimmung. In diesem Kontext könnte Ludwigs Zurückhaltung weniger mit Kritik an der AKP, als vielmehr mit Rücksichtnahme auf die Wahlverhältnisse in Wien zu tun haben.
Wenn Wien wirklich eine konsequente Haltung zu Menschenrechten, Meinungsfreiheit und Demokratie zeigen will, darf Solidarität nicht nur hinter verschlossenen Türen, sondern muss klar und öffentlich zum Ausdruck gebracht werden. Andernfalls bleiben solche Anträge nichts weiter als symbolische Gesten im Dienste innenpolitischer Balance. | ©Der Virgül