Warum objektiver Journalismus Bullshit ist
Die 10 Methoden des pseudo-objektiven Journalismus, wie ihr sie erkennt – und weshalb Journalismus mit Meinung und Haltung weit spannender und besser ist.
„Der Typ“ sei „in keinster Weise objektiv“ und hätte somit „null mit Journalismus zu tun“. So kritisiert ein User meine Arbeit im Forum des „Standard“. Die Tageszeitung hatte darüber geschrieben, wie extreme Rechte und Corona-SchwurblerInnen meine Reportagen und Recherchen behindern.
Woher bei diesem User der Wind weht, ist für Eingeweihte schnell klar. Er nennt sich „TorcidaSplitrules“ – und outet sich damit als Anhänger der weit rechten Fangruppe Torcida. Diese Fans des kroatischen Teams Hajduk Split nennen sich manchmal gern „Hajduk jugend“. Es ist eine Anspielung auf die Hitlerjugend.
Wir wissen eh, wo welches Medium politisch steht
Doch der mutmaßlich rechte Recke stellt eine Behauptung auf, die immer wieder zu hören ist: Journalismus müsse doch objektiv sein. Oder zumindest so objektiv wie möglich. Alle Seiten sollen gehört werden und zu Wort kommen. Ich wäre in den Augen des Torcida-Fans also allein deshalb kein Journalist, weil ich „in keinster Weise objektiv“ wäre.
Mutmaßlich verwendet der Typ das als billige Propaganda, um meine Arbeit zu diskreditieren. Bezeichnend ist aber, wie er das versucht. Denn in Österreich und weitgehend auch in Deutschland gilt angebliche Objektivität quasi automatisch als Krone der journalistischen Schöpfung.
Dabei wissen wir in den allermeisten Fällen ganz genau, wo dieses oder jenes Medium politisch steht. Die große Mehrheit vor allem der Print-Medien in Österreich ist politisch eindeutig konservativ und rechts ausgerichtet. Wer es nicht glaubt, sollte die Leitartikel lesen.
Die Kirche, Raiffeisen, die FPÖ und die Objektivität
Wichtige Eigentümergruppen in der österreichischen Medienlandschaft sind die Kirche und die ÖVP-nahe Raiffeisenbank. Dazu kommt der Einfluss durch Inserate von öffentlichen Stellen und privaten Konzerne. Der ORF ist aufgrund seiner Größe zwar etwas breiter aufgestellt.
Das blaue Netzwerk: Straches Erben
Doch auch dort werden Führungspositionen politisch besetzt, je nach Zusammensetzung der Bundesregierung. Unter Schwarz-Blau etwa sind zahlreiche FPÖ-Verbindungsleute im ORF in zentrale Positionen aufgestiegen. Die ÖVP hat gleichzeitig ihre Positionen nochmals ausgebaut. Ein Schelm, wer glaubt, dass sich das nicht auf die Programmgestaltung auswirkt.
Muss Journalismus objektiv sein?
Aber muss Journalismus überhaupt objektiv sein? Muss Journalismus eine Plattform für jeden Irrsinn bieten? Oder kann es auch einen Journalismus geben, der sowohl professionell wie meinungsstark ist?
Im englischsprachigen Raum ist es absolut üblich, dass Medien Wahlempfehlungen für bestimmte politische Parteien oder KandidatInnen abgeben. Das Konzept nennt sich „Endorsement“, also Unterstützung. Viele weltweit bedeutende Medien haben eine eindeutige politische Schlagseite.
Es geht auch anders
Der US-Sender CNN etwa steht der Demokratischen Partei nahe, der britische Guardian sympathisiert mit dem rechten Flügel der Sozialdemokratie und den Liberal-Demokraten. Diese Positionen ziehen sich klar erkennbar durch die Berichterstattung der beiden Medienhäuser. Dennoch wird wohl niemand bestreiten, dass sowohl CNN wie Guardian professionelle journalistische Arbeit leisten.
Tatsächlich kann es sogar sehr positiv sein, genau zu wissen, wo ein bestimmtes Medium politisch steht. So können Artikel, Berichte und Recherchen jeweils eingeordnet werden.
Er-sagt-Sie-sagt-Journalismus
Wer meint, dass tatsächlich alle Seiten gehört werden müssten, vertritt einen klassischen He-said-She-said-Journalismus. In Konsequenz bedeutet das: Der Klimawandel-Leugner müsste gleich prominent zu Wort kommen wie die Klima-Wissenschaftlerin. Der Corona-Schwurbler die gleiche Sendezeit erhalten wie die Epidemiologin. Der Neonazi ebenso selbstverständlicher Studiogast sein wie die Antifaschistin. Das ist, mit Verlaub, Bullshit.
Journalismus muss nicht alle Idioten zitieren und alle Arschlöcher abholen. Gleichzeitig ist He-said-She-said ohnehin eine Art von Journalismus, die sich vermutlich in wenigen Jahren selbst überlebt hat. Sie wird von künstlicher Intelligenz geschrieben werden. Im Sportjournalismus gibt es solche Programme übrigens bereits jetzt.
Wie könnt ihr es erkennen?
Doch wie könnt ihr nun erkennen, wo angeblich objektiver Journalismus keineswegs objektiv ist? Es muss sich dabei übrigens keineswegs um bewusste Entscheidungen handeln – oft spielt bereits völlig unbewusst die ethische und politische Überzeugung der JournalistInnen eine wesentliche Rolle. Daher ist „objektiver Journalismus“ an sich bereits mehr Fiktion als reale Möglichkeit. Eine Anleitung in 10 Punkten.
1. Welche Themen werden berichtet?
Es ist unmöglich, über alles in vollem Umfang zu berichten. Journalismus bedeutet also immer Auswahl und Einordnung. Welches Thema ist wichtig genug für einen Bericht? Zu welcher Pressekonferenz wird jemand geschickt? Welche zeitlichen und finanziellen Ressourcen fließen in welche Recherche? Liegt der Schwerpunkt der Berichterstattung auf Klatsch und Chronik oder auf Politik?
Diese Entscheidungen von außen zu erkennen, ist natürlich besonders schwer. Wir wissen ja nicht, was wir nicht lesen oder sehen. So hat der ORF etwa trotz zahlreicher Medienberichte die Dokumentation „Tag für Tag ein Boulevardstück“ über die Macht der Kronen Zeitung bis heute nicht ausgestrahlt. Gerade die Entscheidungen, welche Themen nicht berichtet werden, sind besonders schwerwiegend und haben enormen Einfluss auf die Berichterstattung.
2. Was hat überhaupt Nachrichtenwert?
Vor einiger Zeit hat die Boulevard-Zeitung Heute eine bemerkenswerte Meldung mit Foto gebracht. Die heutige ÖVP-Ministerin Karoline Edtstadler hätte sich geschnitten und müsste deshalb ein Pflaster tragen. Nachrichtenwert? Null. Doch die Redaktion entscheidet sich, so etwas prominent ins Blatt zu rücken.
3. An welcher Stelle und wie prominent wird welches Thema berichtet?
Es macht einen großen Unterschied, ob ein bestimmtes Thema groß und ausführlich zum Aufmacher wird. Oder ob es in einer Kurzmeldung verpackt wird. Das ist nicht naturgegeben. Das ist eine Entscheidung.
4. Aus welcher Perspektive wird eine Geschichte erzählt?
Aktuell gibt es viele Berichte zur Situation geflüchtete Menschen auf der griechischen Insel Lesbos. Auch ich war mehrmals vor Ort und habe von dort berichtet. Ein solcher Bericht kann die Situation der geflüchteten Menschen im Mittelpunkt haben und ihre Geschichte erzählen.
Auf Lesbos werden namenlose Flüchtlinge auf einem Acker verscharrt
Es könnte aber auch eine ausführliche Reportage über die Sorgen und Nöte lokaler FaschistInnen entstehen. Beides wäre handwerklich korrekter Journalismus. Die Geschichte, die dann veröffentlicht wird, wird aber offensichtlich völlig anders sein.
5. Wer wird zitiert?
Es findet sich für so gut wie jede Meinung die passende (angebliche oder tatsächliche) Expertise. Neoliberale JournalistInnen werden etwa bei der Suche nach ExpertInnen gern auf die Industriellenvereinigung zurückgreifen. Andere werden vermutlich eher bei der Arbeiterkammer anrufen. Diese „ExpertInnen“ geben dann ihre Sicht der Dinge wieder und „framen“ damit den Bericht entsprechen. Doch die JournalistInnen entscheiden, welche ExpertInnen sie überhaupt anfragen. Und sehr oft dienen ExpertInnen dann eben dazu, das zu sagen, was die JournalistInnen selbst in angeblich objektiven Medien nicht sagen dürfen.
[Du kannst das folgende Banner wegklicken und danach weiterlesen. Du kannst über das Banner auch sehr gern künftige Recherchen mit Meinung und Haltung unterstützen.]
6. Wer kommt zu Wort?
Gerade in TV-Studiosendungen werden oftmals Personen mit völlig abstrusen Inhalten eingeladen. Das dient nicht zuletzt dazu, künstlich Kontroversen zu erzeugen und damit die Einschaltquoten hoch zu jagen. Doch gleichzeitig bedeutet das auch, komplett randständige Positionen (etwa die Leugnung der Klimakrise) immer wieder prominent zu Wort kommen zu lassen.
Extreme Rechte setzen sich auch ganz bewusst zum Ziel, in solchen Sendungen vorzukommen. Sie wollen das sogenannte „Overton-Fenster“ verschieben – also ihre bis dahin im öffentlichen Diskurs inakzeptablen Positionen zur diskutierbaren Meinung machen. JournalistInnen, die solche Figuren einladen, geben sich selbst den Anschein der Objektivität. Doch tatsächlich sind sie Erfüllungsgehilfen.
7. Welche vorhandenen Informationen werden präsentiert?
Medien und JournalistInnen entscheiden, welchen Meinungen sie wieviel Raum geben. „Objektiv“ wäre eventuell, alle Meinungen gleichermaßen zu Wort kommen zu lassen. Doch das ist natürlich schon rein technisch gar nicht möglich. Und es ist auch nicht wünschenswert.
Das Netz ist voll von absurden Verschwörungstheorien. Es wird immer ein paar verrückte und randständige Meinungen geben. Das bedeutet aber nicht, dass Corona-SchwurblerInnen, Hohlerde-Fans oder Nazi-Ufo-Freaks unbedingt Sendezeit im Hauptabendprogramm bekommen müssen. JournalistInnen ordnen ein und entscheiden das.
8. An welcher Stelle werden welche Fakten präsentiert?
In vielen Fällen gibt es aber auch unterschiedliche Positionen, deren Erwähnung durchaus wesentlich ist. Seien es die Positionen verschiedener Parteien. Sei es, dass das Medienrecht verlangt, dass etwa eine beschuldigte Person die Beschuldigung kommentieren darf. Doch auch hier haben JournalistInnen sehr viel Entscheidungsmacht.
Welche Stellungnahme wird an welcher Stelle im Text präsentiert? Welche Positionierung wird mit einer gegenteiligen Positionierung einer anderen Person gekontert? Welche bleibt unwidersprochen?
9. Womit beginnt ein Artikel und womit endet er?
Gerade längere Artikel und Reportagen beginnen oft mit einem „atmosphärischen“ Einstieg. Da darf es auch in ansonsten trockenen Artikeln etwas „menscheln“. Um die Geschichte „rund“ zu machen, endet der Artikel dann auch meist wieder mit der gleichen „Atmo“.
Doch wo es da menschelt, mit welchen Menschen und mit welchen Zitaten diese Menschen zu Wort kommen – das entscheiden die JournalistInnen.
10. Welche Bildsprache wird verwendet?
Die zentrale Bedeutung der Bildsprache wird oft völlig unterschätzt. Kürzlich habe ich über ein Gespräch gelesen, beteiligt waren ein Berater des Ex-US-Präsidenten Ronald Reagan und ein Journalist. Der Journalist hatte während der Amtszeit von Reagan fürs Fernsehen ein bitterböses Stück über den Präsidenten produziert. Er war sehr verwundert, als sich der Berater dafür bedankte.
Bis der Berater es erklärt hat: Die meisten Leute würden sich den Text ohnehin nicht anhören. Aber es wären minutenlang Bilder von Reagan über die Bildschirme geflimmert.
Player aus Politik und Wirtschaft versuchen, über die Bildsprache gewisse Botschaften zu vermitteln. Sie bieten immer häufiger eigene Pressebilder an, sie inszenieren ihre Auftritte. JournalistInnen können sich entscheiden, ob sie diesen Inszenierungen folgen oder die Bildsprache brechen. Und mit eigenen Bildern können Sie ebenfalls enormen Einfluss auf die Berichterstattung nehmen.
Die professionelle Grundlage muss stimmen!
Journalismus, der über Kurzmeldungen hinausgeht, kann so gut wie niemals tatsächlich objektiv sein. Das ist auch gar nicht wünschenswert. Wünschenswert wäre allerdings, wenn die eigenen Positionen jeweils offen dargelegt werden. Hier könnten Medien aus dem englischsprachigen Raum ein Vorbild sein.
Gleichzeitig ist Journalismus mit Meinung und Haltung selbstverständlich kein Widerspruch zur professionellen Arbeit. Ganz im Gegenteil, gerade dann gilt: Informationen müssen recherchiert werden. Beschriebene Fakten müssen gecheckt sein. Zitate müssen korrekt wiedergegeben werden.
Professionelle journalistische Arbeit ist die absolut notwendige Grundlage, auf der eigene Positionen präsentiert werden können. Journalismus, der sich ernst nimmt, kann aber gleichzeitig nicht bedeuten, wie ein Papagei verschiedene Positionen wiederzugeben. Guter Journalismus bedeutet Recherche, Einordnung, die Vermittlung von Hintergründen.
Geh raus und sieh nach, ob es regnet!
JournalistInnen verstecken sich oft hinter ihrer eigenen Geschichte. Doch tatsächlich sind manchmal die JournalistInnen selbst die Geschichte und die Quelle. „Die Zeitung xy hat erfahren, …“ ist letztlich doch nur eine absurde Umgehung wenn der Satz eigentlich lauten müsste „Ich habe gesehen, …“.
Es ist okay, die eigenen Wahrnehmungen auch darzustellen. Es ist okay, sichtbar subjektiv zu sein. Es ist okay, einzuordnen. Es könnte das Vertrauen in den Journalismus sogar eher stärken, wenn das auch offen gelegt wird.
Im Netz kursiert ein sehr kluger Satz über Journalismus: „Wenn eine Person sagt, dass es regnet und eine andere Person sagt, dass es trocken ist, ist es nicht Dein Job, beide zu zitieren. Es ist Dein Job, aus dem verdammten Fenster zu sehen und herauszufinden, was stimmt.“/bonvalot.net
© Bild: virgül